Ressourcenorientiert

Es gibt eine magische Grundregel. Immer das, womit man sich beschäftigt, wird stärker. Wenn der Phobiker sich mit Katastrophenphantasien, Spinnen oder Brücken herumplagt, dann wird die Angst immer größer. Wenn der Patient sich immer mit der Vergangenheit beschäftigt, mit seinen Unzulänglichkeiten, seinen Traumata, seinen unartigen Übertragungen, dann wird er nicht gesünder, sondern kränker, und die Therapie kann Jahre dauern, ohne dass ein Erfolg sichtbar würde. Das Neurosenbild der „Analysenleiche“ ist eine bekannte Witzfigur, und Woody Allen hat mit dieser Rolle Geld verdient. Typisch: Der Patient kennt alle seine Meisen beim lateinischen Namen, aber er ist kontaktgestört und kann nicht mehr über den Tellerrand sehen.

So kam es, dass um 1923 neue Therapiemethoden entstanden, denen eine mehr akzeptierende Attitüde gemeinsam ist. Adler wollte das „Gemeinschaftsgefühl“ stärken, Jung die „Individuation“. Später, in den 50er Jahren, ging es um „emotionale Wärme“ (Rogers), um „Support“ (Lore Perls). – Ja, was ist denn nun daran spirituell?

Ich erkläre das gerne so: Wenn Sie laufen wollen, dann beginnen Sie nicht mit einem Fünf-Meter-Sprung, sondern mit einem Schritt. Tun Sie also das, was Sie schon können. (Statt ewig darüber zu klagen, dass Sie etwas nicht können.) Und dann wird es erstmal phänographisch, d.h. man beschreibt das, was geschieht. Die Wahrnehmung wird gestärkt, die Grundlagen werden aufgebaut. Ich beleuchte sozusagen in unbekannter Gegend in der Nacht die Stelle, wo der Patient seinen Fuß hinsetzen könnte. Spirituell? Naja, das geht eigentlich nur mit einer liebevollen Einstellung. Manche wundern sich, dass Pflanzen besser gedeihen, wenn man liebevoll mit ihnen spricht. Sie werden staunen: das funktioniert auch bei Menschen!

Das schließt Kritik nicht aus. Grenzen zeigen ist auch wichtig, damit man sich verträgt. Wer rücksichtslos ist, bekommt Widerstand, und ich habe die große Chance, im Kontakt mit dem Patienten zu bleiben. Ich kann also meine persönlichen Gefühle einbringen, muss nicht wie weiland Freud kritisch sein, also mich als der strenge Vater verhalten. (Freud stammte aus einer strengen Familie, nix Freude.) Das war auch einer der Gründe, warum Leute wie Stekel therapeutisch anders vorgehen wollten: Stekel brachte sich mehr ein, „Aktive Psychoanalyse“; Freud hielt sich zurück, und das, was er zurückhielt, war Kritik. Das, was mir einfällt, ist aber oft Support, also kritische Solidarität, und die einzige Zurückhaltung, die ich mir auferlege, ist die, dass ich den Patienten nicht überfüttere. Mein Privatleben brauche ich dagegen nicht bewusst abzuschirmen: Das bleibt im Hintergrund, einfach deswegen, weil es um den Patienten geht. Mich interessiert dann seine Art, das Leben zu bewältigen.

Soweit muss man es noch nicht spirituell nennen, denn das tun gute Verhaltenstherapeuten auch. Sie sind auch in der Lage, ein religiöses Glaubenssystem in den Support einzubeziehen. Etwa als Fundus von dem Patienten bekannten Methoden zur Lebensbewältigung. Was mich immer wieder erstaunt, ist ein Vorteil, den religiöse Patienten in der Therapie haben (und den ich ausnutze, im Sinne der Patienten). Wo ich mit anderen erst lange daran arbeiten muss – Grundlagen schaffen, sie drauf bringen, dass das Leben einen Sinn für sie machen sollte – , da reicht bei religiösen Menschen oft schon ein Stichwort. Die geistige Infrastruktur ist schon da. (Ich meine jetzt nicht die Leute mit ekklesiogener Neurose, d.h. von dummen Erziehern und Pfarrern eingeimpfte Schuldgefühle.) Bei den „modernen“ Menschen sind es oft nur Bruchstücke eines Glaubenssystems, auf die man zurückgreifen kann. Um in dem Bild mit dem Beleuchten des nächsten Schrittes zu bleiben: Wer ein Glaubenssystem hat, der sieht vielleicht nicht den möglichen nächsten Schritt, aber das Ganze, er hat eine umfassende Orientierung. Man braucht das System also nur wieder funktionsfähig zu machen, nicht ganz neu aufzubauen.

Mir ist natürlich egal, ob es ein christliches, buddhistisches, heidnisches oder New-Age-System ist. Das kann man übersetzen. So, wie auch die verschiedenen Therapieschulen im Grunde die gleichen Prozesse beschreiben und sinnvolle Interventionen unterschiedlich rechtfertigen, so sind auch die verschiedenen Glaubenssysteme potentiell vollständig, wenn sie im Verlauf der Weltgeschichte erfolgreich waren. Ob Sufi, Tantra, toltekisch oder Rational-emotive Therapy (ja, die auch!) – alle sind entworfen, um den Menschen ganz zu machen und sein Potential zu erschließen.

Da hilft es auch gut, dass in der Gestalttherapie der Widerstand nicht als böse gilt. Psychoanalytiker sind geneigt, ihn zu zer-analysieren. Ich freue mich über Lebensäußerungen, auch über kritische. Wenn ich mich getroffen fühle, dann war das Kontakt. Ich darf auch zeigen, wenn ich gekränkt bin oder bitter. Nur eins gilt nicht: den Patienten dafür abstrafen („Sie haben eine Vater-Übertragung!“).

Nochmal die Sache mit dem Licht: Stellen Sie sich vor, dass Pflanzen (und Menschen) Licht brauchen, um zu wachsen. Nicht nur zum Sehen, auch zum Auftauen, zum Expandieren. Stellt man eine Pflanze in die Sonne, dann macht sie Ihnen Freude. (Kennen Sie die Kurzgeschichte „Slow Sculpture“ von Theodore Sturgeon?) Jeder Geistheiler wird Ihnen bestätigen, dass nicht der Therapeut die heilende Kraft gibt, sondern nur die kosmische Energie weitergibt. In der Psychotherapie geht es nicht anders. Ich bin der Katalysator, also lasse ich die Patienten heilen, und durch diesen Prozess werde ganz nebenbei auch ich selbst geheilt.

Das Wörtchen „ressourcenorientiert“ ist ein Modewort, das aus der Humanistischen Therapie stammt (das ist der Sammelname für die Therapien, die in den 50er Jahren ihren Anfang hatten: Gestalt-, Familien-, Gesprächs/klientenzentriert, Transaktionsanalyse etc). und die sich mit Entscheidungsfähigkeit und Ähnlichem beschäftigten. Also nicht nur mit dem Trieb und seiner Verhinderung, oder mit seiner Dressur. Diese Art der Betrachtung hatte einen ersten Vorläufer 1906 (also kurz nach Freud) bei Max Wertheimer, der darauf kam (bei Taubstummen) nicht nur mit der Messlatte zu kommen, sondern Lernbedingungen zu schaffen, damit sie Chancen hatten zum Lernen. Und genau darum geht es bei der Ressourcenorientierung.