Traumatisierung und Stigmatisierung

Vortrag für die 37. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Senologie, Berlin 2017

Die Anlage zur Transidentität besteht wahrscheinlich schon von Geburt an. Transidenten sind nicht häufiger als Andere psychotisch oder Borderline. Die Borderline-Störung entsteht in der frühen Kindheit, wenn die Transidentität für die Umwelt noch nicht klar erkennbar wird. Oft wird aber die Traumatisierung und nachfolgende Posttraumatische Belastungsstörung mit der Borderline-Störung verwechselt. Auslöser der Traumatisierung ist die empfundene Hilflosigkeit, ohne Möglichkeit, adäquat zu reagieren. Bei Transidenten kann das Unverständnis von Eltern, Lehrern, Mitschülern, Ärzten oder  anderen Personen zur Ausgrenzung, Abwertung und späteren Depressionen oder Anpassungsstörungen führen. Die Symptome können ähnlich wie bei der Borderline-Störung sein: Durchbrechende Aggression, Selbstverletzungen, Suizide. Bleibt die Hilfe aus, dann entsteht die erste Stigmatisierung. Das Wissen über die Folgen der Traumatisierung ist bei Pädagogen und Ärzten nur spärlich verbreitet, und darum werden Transidenten oft weiter stigmatisiert.

Der Wunsch nach einem Leben in einem anderen Geschlecht wird auch in Kliniken immer noch als Folge einer Psychose oder Persönlichkeitsstörung gedeutet. Die Mittel der  Wahl sind Psychopharmaka oder Umerziehungsversuche. Aber wie sich in den letzten 50 Jahren gezeigt hat, verschlimmern Umerziehungsversuche nur das Elend und haben oft zum Suizid der Betroffenen geführt.
Umerziehungsversuche führen deshalb nicht zum Erfolg, weil nach dem Wenigen, was wir wissen, vorgeburtliche Prägungsvorgänge eine Rolle spielen. Transidentität ist durch Umerziehung oder Psychotherapie nicht veränderbar. Sie ist auch nach dem jetzigen Stand der Fachdiskussion nicht mehr als Krankheit oder gar Persönlichkeitsstörung anzusehen. Der Wunsch, anders als im zugeschriebenen Geschlecht zu leben, wird in verschiedenen Kulturen ganz unterschiedlich gehandhabt. Und die Stigmatisierung kann immer nur dann überwunden werden, wenn jeder Mensch die Lebensform als Mann oder Frau oder ganz ohne Festlegung selbst wählen kann.
Psychologische Beratung muss also zunächst diagnostisch vorgehen, ohne weiter durch Pathologisierung zu stigmatisieren. Das muss auch ohne Zeitverlust geschehen. Jahrelange sogenannte Diagnostik ohne konkrete Schritte verlängert die ohnehin schon schwierige Situation der Transidenten und wird von ihnen als Verlust an Lebenszeit empfunden.

Beratung hat also folgende Aufgaben:
Erstens die Diagnostik – und zwar durch qualifizierte Fachkräfte. Und da haben wir schon ein Problem: Es gibt nämlich kaum qualifizierte Fachkräfte. Der einzige Ansatz, der sich bisher bewährt hat, entsteht aus der engen Zusammenarbeit von Psychotherapeuten, Ärzten, Selbsthilfegruppen und Beratungsstellen.

Zweite Aufgabe ist die Vermittlung von Hilfe, wenn sie denn nötig ist. Zum Beispiel Psychotherapie, wenn Traumatisierungen entstanden sind. Auch hier tritt das schon erwähnte Problem auf: Es gibt kaum fachkundige Psychotherapeut*innen. In den Ausbildungen in Richtlinienverfahren werden keine Kenntnisse über Transidentität vermittelt. Es ist sogar schwierig und in vielen Gegenden geradezu unmöglich, zeitnah einen Termin für eine Psychotherapie  zu bekommen. Darum gehen viele Betroffene nach langer und vergeblicher Suche zu außervertraglichen Behandlern, die aber trotz Approbation nicht von allen Krankenkassen bezahlt werden.

Und schließlich besteht die dritte Aufgabe der Beratungsstellen darin, die Betroffenen über die nächsten möglichen Schritte zu informieren.

Zur Zeit ist es nach den geltenden Standards of Care gefordert, dass alle Betroffenen, die – außer der Hormontherapie –weitere medizinische Maßnahmen der Geschlechtsangleichung wollen, eine 18monatige Psychotherapie absolvieren müssen. Das macht insofern Sinn, als im Lauf des Outings, während der Hormontherapie und in der Auseinandersetzung mit dem MDK der Krankenkassen weitere Stigmatisierungen und Traumatisierungen auftreten können. Aber bei denen, die schon jahrelang in der gewünschten Rolle leben und sozial gut integriert sind, sind diese 18 Monate Psychotherapie natürlich überflüssig.

Es gibt allerdings auch Krankenkassen, die einen Antrag auf Epilation – also die Entfernung der Barthaare bei Transfrauen – erst nach der Befürwortung durch den MDK nach der 18monatigen psychotherapeutischen Behandlung bewilligen. Da werden also die Betroffenen gezwungen, sich im alltäglichen Leben in der weiblichen Rolle vor jeder Behandlung einen Drei-Tage-Bart wachsen zu lassen, wie er für die Epilation notwendig ist.
Die nächste Hürde ist der MDK, der Behandlungen oft wegen eines fehlenden Attestes ablehnt. Folgen sind Widersprüche  und unnötige Wartezeiten und damit eine weitere Verlängerung der Belastungen für die Betroffenen. Oft ist damit die Unterstellung verbunden, dass für eine Operation nicht genügend Stabilität bei den Betroffenen vorhanden sei, da durch die lange Zeit der Ungewissheit die Depressionen zugenommen hätten.

Wünschenswert wären deshalb neue Standards of Care, an denen bereits seit Jahren gearbeitet wird, diesmal auf der Basis von Informed Consent, also der freien Entscheidung zu medizinischen Maßnahmen bei ausreichenden Informationen über Umstände und Folgen. Außerdem wäre eine bessere  Finanzierung von Beratungsstellen zu fordern.  Und letztlich ist die Qualifizierung von Psychotherapeut*innen zur Begleitung von Betroffenen notwendig – da, wo es nötig ist. Die Qualifizierung muss frei organisiert werden, weil bisher an den Universitäten kaum Fachkompetenz dafür vorhanden ist. Dazu muss es eine Zusammenarbeit mit den Beratungsstellen, den Selbsthilfegruppen und den Ärzten geben.